Hintergrundinformationen
In den mittlerweile 25 Jahren seiner schulischen Tätigkeit
hat der Lehrer Knut Langhans neben dem Unterricht eine ganze Reihe
sehr unterschiedlicher Projekte betreut. Das Spektrum reichte dabei
von der Konstruktion eines Cyberbikes
über die Produktion von Multivisionen wie z. B. der Sternenodyssee
Vincent's Starship, einem mit 24 Diaprojektoren
simulierten Flug durch Raum und Zeit, bis hin zur Entwicklung eines
3D- Displays.Auch die Kreation futuristischer
Mode aus Müll und eine Modenschau mit dem Titel Vincent's
Starship Schnuppen gehörte hierzu. Zeitweise beteiligten
sich über mehrere Jahre hinweg 120 Schülerinnen an 27
verschiedenen Projekten. Die Themenschwerpunkte in den einzelnen
Gruppen sind so gewählt, dass möglichst viele Schülerinnen
mit verschiedenen Interessen und unterschiedlichen Alters mitarbeiten
können. In all diesen Projekten wurde versucht, Aspekte der
Technik und der Kunst zu verbinden. Die Projekte sind fächerübergreifend,
multimedial und ganzheitlich angelegt und dauern in der Regel mehrere
Jahre. Ziel dieser Arbeit ist es, im Rahmen freiwilliger Projekte
am Nachmittag, an den Wochenenden und in den Ferien den Jugendlichen
die Möglichkeit zu einer zeitgemäßen, praxisorientierten
Ausbildung zugeben. Diese beinhaltet den Erwerb zusätzlicher
Qualifikationen und Kompetenzen. Dabei werden Strategien für
kontinuierliches, langfristiges, gemeinsames Arbeiten entwickelt
und so schon früh Durchhaltevermögen und Beständigkeit
trainiert. Enge Kontakte zu Universitäten und in Industrie
gewährleisten den Transfer von aktuellem Wissen und Know-how
und erleichtern den Jugendlichen den Übergang in die Arbeitswelt
oder auch das Studium. Entsprechend der Bandbreite der Projekte
wurden die Arbeiten auch auf unterschiedlichen Messen und Kongressen
vorgestellt und schon mehrfach ausgezeichnet. So z.B. auf der CeBIT'92,
der Hannover-Messe Industrie, der
IFA in Berlin, der EXPO'92 in
Sevilla, der "arte-digital"
des Goethe- instituts in Buenos Aires 1993 sowie dem "festival
of photojournalism - visa pour l'image" 1994 in Perpignan,
der Photonics West in San Jose 1996,
der Photonics China in Peking 1996,
der SIGGRAPH'99 in Los Angeles, der
Optatec in Frankfurt am Main 2002, der Photonics
West 2003 in Santa Clara und dem Kongress
Optische Technologien in Berlin 2003.
Eine Multi-Vision
Nein, das sei
ja wirklich zu schade. Dieses Schietwedder. Die alte Dame hat Mitleid.
Und in den Händen ein Tablett mit starkem, schwarzen, dampfenden Tee.
Und neugierig ist sie natürlich auch: Die Scheinwerfer, die Kamera. Der
dunkelblaue und blitzblank polierte Oldtimer (Abb.1). Und dann die »dschungen
Deerns in diesen...« - tja, was eigentlich?
»Das ist ein
Kartoffelsack, trägerlos«, verkündet Ariane und schaut an sich herunter.
»Mode aus Müll. Ganz einfach selbstgemacht und außerdem kostenlos.« Die
alte Staderin (grauer Rock, braune Strickjacke, Blümchenbluse) schüttelt
den Kopf, macht sich nur Sorgen: »Daß Ihr Euch da man nix wegholt.« Und
dann kommt der Tee dran. Drehpause.
Jugend forscht,
im weitesten Sinne. Nicht für die Schule, sondern für's Leben. Und deshalb
möglichst weit weg von Lehrern und Noten, von Unterrichtsplänen und Pausenmilch
- eine Arbeitsgemeinschaft eben, aber nicht irgendeine.
Geschichtsstunde:
Die paar zusammengerafften Videolampen kämpfen gegen die Nacht. Nieselregen
füllt die Lichtkegel (Abb.2). Kabelsalat auf spiegelndem Kopfsteinpflaster
Der alte Hafen, Fachwerkfassaden, Stades Schokoladenseite - zartbitter.
Die Teetassen sind schnell leer. Und dann sagt jemand: »Worauf warten
wir eigentlich?« Zum x-ten mal setzt der Fahrer zurück, achtet geduldig
auf das Handzeichen. Sein Benz ist älter als die beiden Passagiere auf
dem Rücksitz zusammen. Und dann, immer wieder, Großaufnahme (Abb.3): anfahren,
anhalten, Tür auf. Mädchenbeine zuerst, dann gewaltige Berge von Kleidern,
die sich raschelnd und knisternd aus dem Fond herausschälen. Hüte zum
Fürchten. Kichern. Schnitt.
In sicherem
Abstand sind ein paar versprengte Touristen stehengelieben. Und ein Mann
mit Fahrrad. Zuerst fällt er nicht weiter auf. Doch dann sind da diese
großen Augen, das verschmitzte Lächeln - völlige Regungslosigkeit. Plötzlich
springt er über Kabel hinweg und stoppt neben der - imposanten, aber natürlich
nur geliehenen - Kamera: »Ihr macht das wirklich ganz prima.« Und ehe
jemand reagieren kann: »Wann seid Ihr fertig mit dem Video? - Wir brauchen
das! Wir müssen uns unbedingt beeilen!«
Ein Lehrer
und seine Schüler. Außerhalb der Schule, fernab jedes Lehrplanes und noch
weiter weg von tarifvertraglichen Arbeitszeitordnungen oder dem Pausengong.
»Leistungskurs in Phantasie« (Abb.4) - so lautet das Urteil eines phantasievollen
Beobachters. »Arbeitsgemeinschaft Jugend forscht« - so nennen sie sich
selbst. Aber ein Titel, Worte allein reichen einfach nicht. Kurze, selbstgedrehte
Videofilme kommen dazu. Doch auch sie können nur einen Bruchteil davon
widerspiegeln, was diesen Lehrer und die Schüler antreibt. Was sie Nachmittage,
Nächte, ganze Ferien hindurch zusammenführt und -hält. Und was viele von
ihnen intensiver und länger beschäftigt als der eigentliche Unterricht.
Das Schulfest
hat alles, was ein Schulfest braucht: Negerküsse vor allem. Aber auch
ein paar pädagogische Produkte: Strohsterne, Kohlezeichnungen, ein Aufsatz
über's Waldsterben. Und dann ganz hinten, kurz vor der Raucherecke, da
sind sie wieder: diese leuchtenden Augen, diesmal rastlos und wach. Dazu
ein Zylinder auf den Kopf gezwängt und ein schlichter, schwarzer Umhang.
Der Lehrer hat Mut. Und eine rote Rose (Abb.5) in der rechten Hand. Behutsam
zieht er sie aus einer Thermosflasche mit gefrorener Luft. Und dann, wie
aus Versehen, läßt er sie fallen. Sie zerplatzt, schockgefrostet, in tausend
Scherben. Und das Publikum kann's gar nicht fassen. Applaus im »Chemiezirkus«,
der Vorhang fällt. Doch hinter den Kulissen geht es erst richtig los.
Aus der Spielerei, damals, im Jahre 1980, wird eine Kettenreaktion - nicht
nur in chemischer Hinsicht.
Von diesem
Tag an ist etwas anders am Vincent-Lübeck-Gymnasium. Die Putzfrauen bekommen
das als erste zu spüren. Plötzlich haben sie die Nachmittage, die leeren
Flure und Hallen nicht mehr für sich allein. Das Heulen ihrer Bohnermaschinen
mischt sich mit neuen, unbekannten Tönen. Klack-klack-klack-klack-klack-klack-
klack: Es sieht aus wie eine flache Zigarrenkiste, mit Metallkugeln gefüllt
und einem Plexiglasdeckel (Abb.6). Elektromotoren versetzen das Ganze
in Schwingung und lassen die Kugeln tanzen. »So ähnlich«, sagt Martina
und starrt wie hypnotisiert auf ihren Versuch, »könnte die Bewegung von
Molekülen und Atomen aussehen - natürlich nur theoretisch.« Dann dreht
sie sich um und schaut auf einen Computerbildschirm. Auch dort tanzen
die Teilchen, lautlos allerdings (Abb.7). »Unser Ziel ist es, mit dem
Rechner eine chemische Reaktion zweiter Ordnung zu simulieren.« Und tatsächlich:
einige Monate später ist es soweit. Reagenzglas-Realität und Computergrafik
stimmen überein. Der Bundeswettbewerb »Jugend forscht« macht zum ersten
Mal Bekanntschaft mit den Stader Schülern.
Von nun an
folgt eine Arbeit der anderen. Und neben Lötkolben, ph-Meter und Stichsäge
wird eine alte grüne Reiseschreibmaschine zum wichtigsten Werkzeug. Daneben
eine dicke Adressenliste. Und immer wieder die Bitte nach »freundlicher
Unterstützung« - Jugend tippt. Und dann das tägliche Warterei auf den
Postboten, rnanchmal schon am Schultor. Der Brief ungeöffnet zurück? Oder
eine Absage? Oder tatsächlich - ein Paket? Da kann ein fast neuwertiger
Argon-lonen-Laser schon mal die vier-minus in Latein überstrahlen. Und
für die Portokasse geht der Chemiezirkus noch mal auf Tournee durch Stades
Innenstadt (Abb.8): der alte Hafen, Fachwerkfassaden, Kopfsteinpflaster.
Und weitere Rosen, die darauf zerplatzen. Doch ihre gefrorenen Scherben
bringen Glück. Die Arbeitsgemeinschaft macht Fortschritte - im wahrsten
Sinne. Und als drei Jahre später an derselben Stelle dieselben Schüler
stehen, mit einer Videokamera, einem Oldtimer und rnerkwürdigen Kostümen
aus einer anderen Welt, da sind sie schon über die Grenzen Stades hinaus
bekannt.
Doch die alte
Dame mit dem Tee hat davon noch nichts gehört und ist nach wie vor skeptisch,
als sie ihre Tassen wieder einsammelt. »Diesen ganzen modern' Kram«, sagt
sie, mustert ein Ballkleid aus Müllsäcken und lächelt dann: »Na, solange
ich das nich' anziehen brauch'...«
Was das mit
'Jugend forscht' zu tun hat?« - Britta blickt von ihrer Nähmaschine auf.
»Na ja, Recycling, Umweltschutz, Materialforschung, da gibt es genug Verbindungen.
Die Leute denken bei Wissenschaft nur immer an langweilige, kahle Labors.
Wir versuchen, das mit Kunst zu kombinieren. Und zeigen, daß wir auch
noch Spaß dabei haben.« Die Antwort kommt, ohne zu zögern. So oft schon
hat sie die Frage gestellt bekommen. So oft haben Reporter und Politiker,
Manager und Mäzene fasziniert, aber auch etwas verwirrt dagesessen: Das
haben die »Kinder« tatsächlich selber entworfen? selber genäht? und gehen
damit auch noch selbst auf den Laufsteg? »Das ist schon 'ne Menge Arbeit«,
meint Heidi und läßt die Nadel rattern, »vor allem die Choreographie,
das regelmäßige Üben. Und schließlich gehen wir ja nebenbei auch noch
alle zur Schule...« Mode als Verpackungskunst: mit Plastiktüten und Spiegelscherben,
mit Diarahmen und Nummernschildern, mit Joghurtbechern und Fahrradreifen.
Eine Kollektion im ursprünglichen Sinn: colligere, lat.: sammeln. Es liegt
genug herum. Und Mode als Botschafter: ein diplomatischer Dienst für die
trockenen Wissenschaften - auch eine Art Verpackungskunst (Abb.9).
Vielleicht
liegt da ein Geheimnis der Stader Truppe: Sie entsprechen so gar nicht
dem Klischee. Keine Spur von braven, weltfernen und cordhosetragenden
Naturwissenschaftlern. Keine Geheimnistuerei und Öffentlichkeitsscheu
- im Gegenteil: tu' Gutes und rede darüber! Und wie es sich für anständige
Botschafter gehört: sie reisen viel. Der Laufsteg führt vom Kopfsteinpflaster
der Stader Altstadt über die Kö-Galerie (Abb.10) in Düsseldorf auf die
Bühne des Hamburger Congress-Centrums (Abb.11 &12). Fotoaufnahmen
in Paris (Abb.13), Niedersachsen-Werbung auf der Weltausstellung in Sevilla
(Abb.14). Die »futuristische Modenschau« ist zum Markenzeichen geworden,
für junge und freche Phantasie, für eine Generation, die weiß, was sie
will: nach den no-future-Jahren der 80er kommt das besonders gut an. Jugend
lebt.
Oelli mag nicht
mehr (Abb.15). Oelli hat schlicht und ergreifend die Nase voll. Nächte
durchgearbeitet. Hunderte von Dias sortiert, Kilometer von Kabel verlegt,
geschleppt, gelötet, gebohrt. Und jetzt das: Die Projektoren spinnen.
Der Computer macht, was er will. Die Gäste wenden sich amüsiert ab und
schlendern davon. Der Lehrer schließt seine großen Augen und atmet tief
durch. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Eine Einladung
in die Braunschweiger Stadthalle. Die riesige Fensterfront sollte zur
Leinwand werden, für eine Sternenshow, ein Feuerwerk, eine Reise in die
Unendlichkeit (Abb.16). Alles war perfekt geplant, das Herzstück der Anlage
doppelt und dreifach geprüft: ein unscheinbarer Metallkasten, gekoppelt
mit einem tragbaren Computer und 32 Diaprojektoren. Dazu eine eigene Programmsprache
und selbstgemischte Synchronmusik. Multivision für Fortgeschrittene. Im
Wettbewerb Jugend forscht' wurde das ein Erfolg (Abb.17). In Braunschweig
steht jetzt alles kurz vor dem Kollaps.
Oelli läßt
den Kopf hängen, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann ist er
schon wieder auf den Beinen und gibt erst Ruhe, als kurz nach ein Uhr
nachts der Fehler gefunden ist: eine Baßbox hatte zu dicht an einer Datenleitung
gestanden. Durch das gewaltige Magnetfeld ist einiges durcheinandergewirbelt.
Auch in den Köpfen der Schüler. Doch wenn einer die Nerven behält, dann
ist es Beate: »Pech«, sagt sie kühl und lächelt dann: »Aber diesen Fehler
haben wir bestimmt nur einmal gemacht. « Dabei denkt sie schon an den
folgenden Abend: Neuer Starttermin, der Countdown läuft. Und alle wissen,
wenn was schiefgeht: Beate ist da. Sagt ihre Meinung und packt immer mit
an. Ganz zu schweigen von ihrem legendären Apfelkuchen. Und da ist er
auch wieder, der Blick aus den großen Augen. Entspannt nach den Stunden
der Hektik, müde nach der zweiten Nacht ohne Schlaf. Aber happy: »Ich
wußte, daß wir es schaffen. Ich wußte, daß Ihr Euch nicht unterkriegen
laßt.« Der Lehrer und seine Schüler. Durch dick und dünn.
Stadthalle
Braunschweig, 24 Stunden nach dem Fehlstart. Draußen hunderte von frierenden
Zuschauern. Dezemberregen. Drinnen die Stader Schüler und ihre Diaprojektoren.
Sie halten die Luft an. Dann drückt Oelli die alles entscheidende Taste.
Und es entfaltet sich ein 15minütiges Spektakel, eine Komposition aus
Licht und Tönen, aus Bewegung und Harmonie. Dann Stille. Und plötzlich
- Applaus, der zu ihnen hereindringt und sich mit dem Summen der Projektoren
mischt (Abb.18).
Multivision.
Ein Wort, das zunächst mal für eines der vielen Forschungsprojekte steht,
für die computergesteuerte Verknüpfung verschiedener Medien. Darüber hinaus
ist es aber auch hier wieder die Verknüpfung von trockener Wissenschaft,
von Schaltkreisen und Computerprogrammen auf der einen Seite, und von
künstlerischer Gestaltung, von Musik, Bildern und Dramaturgie auf der
anderen. Ein Erlebnis für die Sinne. Eine Erfindung, die sich - wortwörtlich
- sehen lassen kann, nicht nur in Braunschweig. Die Weltraumshow (Abb.19)
hat einen immer dichter gedrängten Flugplan: Internationale Funkausstellung
in Berlin (Abb.20), Filmaufnahmen für den NDR, die Hannover Messe Industrie
(Abb.21), schließlich ein Weltkongress der Kunsterzieher (INSEA) in Hamburg.
Dort ist es wieder eine Fensterfront (Abb.22), die als Leinwand herhalten
soll: 60 Quadratmeter Glas werden mit Polyesterstoff bespannt, die 64
Diaprojektoren stehen auf drei Foyer-Ebenen verteilt. Kurz nach 22.00
Uhr ist es dann soweit. Diesmal ist es Andreas, der die Startfreigabe
gibt. Und die Show - genannt »Vincent's Starship« - hebt ab, ist »on air«
- im doppelten Sinne. Denn hunderttausende Hörer von »Radio Hamburg« fliegen
mit. Auf 103,6 Megahertz überträgt der Privatsender die Multivisions-Oper
live, synchron und in Stereo. Mehr als 1000 Menschen sind deshalb zum
Internationalen-Congess-Centrum gepilgert, um die dazugehörigen Bilder
(Abb.23) zu sehen - mit ihrem Walkman oder Ghettoblaster am Ohr. Multivision
made in Stade, das ist 'Jugend forscht' von ihrer populärsten Seite.
Multivision.
Ein Wort, das aber auch weit über die Sternenshow hinausgeht. Es ist das,
was inzwischen mehr als nur einen Lehrer und seine Schüler verbindet:
Eine Vision, vielfach, vielfältig - eben multi. Eine Vision von »vernetztem«
Lernen, fächer-, jahrgangs- und schulübergreifend, irgendwann vielleicht
einmal international. »Fachidioten im stillen Kämmerlein, das ist genau
das Gegenteil von dem, was wir wollen!« Kay lehnt sich zurück und blickt
auf die armdicken Kabelstränge um sich herum: »Das ist doch das Problem
mit dem normalen Schulunterricht: streng abgegrenzte Fächer, unterschiedliche
Lehrer, ja sogar jede Stunde in einem anderen Raum. Aber so kann es einfach
nicht funktionieren!« Er steht auf und beginnt, das Werkzeug einzusammeln.
»Diese Multivisionsanlage zum Beispiel. Da steckt eben Elektrotechnik
und Informatik drin, aber genausogut Akustik und Optik, also Physik. Und
dann die ganzen Kisten, Stative und Hilfsmittel, alles selbstgebaut. Das
ist nichts anderes als solides Handwerk (Abb.24).« Und schließlich zeigt
er auf die riesigen Stoffbahnen an der Fensterfront: »Da haben uns übrigens
die Mädels von der Modenschau geholfen, mit ihren Nähmaschinen.« Teamwork
also, ein so arg strapaziertes Wort. In Stade hört man es eher selten
- weil es eine Selbstverständlichkeit ist und nicht extra beschworen werden
muß.
Felix ist
immer noch zu laut, und viel zu sensibel. Aber dafür schon ein Veteran
(Abb.25). Seit über 10 Jahren ist er dabei, hat bei Jugend forscht schon
Bundespreise (Abb.26) und eine Ehrung der Elektronikindustrie geholt.
Trotzdem: Felix macht immer wieder Probleme. Besonders bei mehr als 1200
Umdrehungen pro Minute. Da fängt er an zu flattern, und das klingt nicht
gerade vertrauenserweckend. Irgendwie ähnelt Felix einem Korkenzieher.
Mathematiker nennen diese Form eine Helix - und so kam er zu seinem Namen.
Außerdem ist er aus Plexiglas - deshalb so empfindlich, hat den Durchmesser
einer Langspielplatte und dreht sich auch wie sie, allerdings mit der
30fachen Geschwindigkeit. »Das könnte der Fernseher der Zukunft (Abb.27)
sein«, meint Detlef und lächelt etwas verlegen. Volker ergänzt schließlich:
»Na, eine Weile wird das aber noch dauern.« Dennoch: Felix leistet das,
was in der Bildübertragung der logische nächste Schritt wäre: die dreidimensionale
Darstellung. Während die herkömmlichen Systeme den räumlichen Effekt aber
nur vortäuschen, mit ulkigen Hilfsbrillen und auf einer nach wie vor platten
Mattscheibe, ist Felix wirklich dreidimensional. Das heißt: der Zuschauer
kann um das Bild herumgehen und es von allen Seiten aus betrachten. Ein
computergesteuerter Laserstrahl tastet die rotierende Spirale von oben
ab und erzeugt so ein räumliches Bild. Zuerst waren das einfache mathematische
Kurven, später geometrische Körper, schließlich Comicfiguren. »Wir müssen
vor allem die Auflösung verbessern«, sagt Detlef,
»und bisher können wir nur einfarbig abbilden, das wollen wir irgendwann
auch noch ändern.«
Aber immerhin:
Felix hat seine Kinderkrankheiten abgelegt, ist jetzt im heiratsfähigen
Alter, gut ausgerüstet mit einem Gebrauchsmusterschutz und heftig umworben, von
Firmen im In- und Ausland. Sie wollen ihn zum Beispiel für die Luftraumüberwachung
weiterentwickeln. Ein 3D-Radar würde die Fluglotsen entlasten und so mehr
Sicherheit bringen. Detlef jedenfalls ist von dieser Idee überzeugt. Und
die Reaktion der Industrie gibt ihm recht. Auch wenn er lange darauf warten
mußte.
Inzwischen
hat er sein Studium begonnen und abgeschlossen. Doch das bedeutete nicht,
die Stader Arbeitsgemeinschaft zu verlassen - im Gegenteil: 'Jugend forscht'
hatte ihn fit für's Studium gemacht. Und nun bringt er seine Universitätskenntnisse
zurück nach Stade. Technologietransfer, sozusagen. In beide Richtungen.
Felix kann davon nur profitieren. Und der Nachwuchs natürlich auch. »Die
sind jetzt im gleichen Alter wie ich damals, als wir den ersten Laser
bekommen haben«, erinnert sich Detlef und grinst: »Nur damals gab's leider
noch keine Forschungsförderung von einem netten Diplom-lngenieur.« Und
damals gab's noch keine Hochleistungsrechner im Hosentaschenformat. Zehntklässler
rangieren heute mit Speicherplätzen, die vor zehn Jahren noch science-fiction
und der Stolz jeder Hochschule gewesen wären. »Wir hatten damals den 'PET'
(Abb.28)«, erinnert sich Ulf, »und waren ziemlich stolz auf die geballte
Kraft von 32 Kilobyte. Damit würde sich heute schon jeder Gameboy schämen.«
Die Geburtsstunde
der Homecomputer und die der Arbeitsgemeinschaft 'Jugend-forscht' fielen
genau zusammen - ein Zufall, der heute fast geplant wirkt. Die Simulation
der chemischen Reaktionen, die erste Steuerungs-Software für die Multivision,
Erfolge mit Stundenplan-Planungsprogrammen (Abb.29), all das lief zunächst
über den flimmernd-grünen Bildschirm des 'PET' - in Zeitlupe, aus heutiger
Sicht. Aber egal: zunächst zählt nur die Idee. Sie ist das, was Forschung
ausmacht, und kann auch mit bescheidenen Mitteln funktionieren. Andererseits:
der technische Fortschritt, die immer neuen Werkzeuge und Möglichkeiten
sind es, die aus der Idee eine Entwicklung machen. Kurz: die Software
der Schülerhirne braucht Hardware - und umgekehrt. Dabei wird es immer
schwieriger - und das heißt vor allem immer teurer -, den Anschluß an
die modernsten Technologien nicht zu verlieren. »Gerade bei den Computern
hängen wir am Spendentropf.« Thorsten zieht den Netzstecker und wickelt
das Kabel sorgfältig auf. »Aber darauf kann man sich halt nicht immer
verlassen. Dann trösten wir uns und sagen: 'Mit Super-Mega-Turbo-Rechnern
kann das ja jeder. Aber wir schaffen's auch mit einfachen Mitteln'.«
Nur eines läßt
sich auch durch noch so gute Ideen, durch noch so viele Nachtschichten
nicht ersetzen: Platz zum Arbeiten, zum Denken, zum Experimentieren. Die
Schule hatte diesen Platz noch nie. Nach Jahren wurde zwar eine Abstellkammer
frei, die reichte aber gerade mal zum Lagern der Geräte. Doch komplizierte
Versuchskonstruktionen, langwierige Meßreihen? - undenkbar. Wasser- und
Gasanschlüsse, Starkstrom, Lüftungssysteme? - nur ein Traum.
Unterdessen
wuchs die Anzahl der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft mit immer größerem
Tempo (Abb.30). Aus 5 Projekten wurden 30. Und irgendwann war das Maß
voll: Schlammige Bodenproben neben mikrometer-genau justierten Laserspiegeln.
Käferlarven zwischen Kondensatoren. Der Antwortbrief von Firma X getränkt
mit Schwefelsäure. Und über allem die Sphärenklange von »Vincent's Starship«.
Jugend stinkt's.
Gebäude haben
keine Schmerzen (Abb.31). Gebäude schweigen und lassen es mit sich geschehen.
»Die Bausubstanz hat gelitten.« - So oder ähnlich steht es im Gutachten
eines Architekten. Falsch. Niemand hat gelitten. Auch nicht, als man ihr
die Flügel amputierte. Und sie ist auch nicht im Stich gelassen worden.
Die alte Mühle steht einfach leer - und sie beklagt sich nicht. Aber schade
ist es trotzdem. Weinflaschen von Aldi, eine löchrige Wolldecke. Die Treppe
knarrt kaum und wackelt gar nicht. Auch wenn es so gut passen würde. Ein
hölzerner Hohlraum. Wie der Rumpf einer gekenterten Galeere. Sogar ein
paar Ketten liegen herum. Und dann noch eine Treppe, noch ein Stockwerk:
Platz, Freiraum. Ein leerer Bienenstock, eine alte Pyramide - an eine
Windmühle erinnert nichts. Dann schließlich die letzte Treppe, eher eine
Leiter. Sie führt ins Gebälk, in die Spitze des Mühlenkranzes. Ein winziges,
fast erblindetes Fenster. Und eine Silhouette davor. Der Lehrer blickt
nach draußen, auf einen flachen grauen Klotz: die Vincent-Lübeck-Schule.
Dann wendet er sich langsam ab und seine Augen strahlen. Sie haben etwas
gesehen, was zu schön wäre, um wahr zu sein (Abb.32).
Wahrscheinlich
nur ein Wunschtraum, eine multi-Vision (Abb.33).
Olaf Steenfadt, 1994.
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Knut Langhans
Abb.1: Der dunkelblaue und blitzblank polierte Oldtimer
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